Wing Tsun/Wing Chun zur Selbstverteidigung? Eine Analyse


Wing Tsun zur Selbstverteidigung

Wing Chun ist weltweit bekannt geworden als die Kampfkunst, die der junge Bruce Lee, als ersten Kampfkunst von seinem Lehrer IP Man erlernte. Bis heute haben sich unzählige Stilrichtungen des Wing Chun, in unterschiedlichsten Schreibweisen und wichtig, technischen Varianten, entwickelt. Die allermeisten bewerben ihre Kampfkunst, als Selbstverteidigungsmethode.

Wing Tsun und Derivate aus der Linie Ting/Kernspecht decken im Unterricht alle Aspekte moderner Selbstverteidigung ab. Dazu zählen praktische und theoretische Konzepte, wie Vorkampfverhalten und Ritualkampf. Es wird auch viel Wert auf traditionelle Inhalte gelegt, nicht nur die Selbstverteidigung.

Schwerpunktmäßig konzentrieren wir uns in dem Beitrag auf die modernen Interpretationen des Wing Chun. Dazu zählt das Wing Tsun von Leung Ting und Keith Kernspecht und die Stilrichtungen, die sich daraus entwickelt haben.

Anderen Linien wie der von Wong Shun Leung – Philipp Bayer, die ihr Wing Chun (Bayer Ving Tsun) werben wenig, bis gar nicht, mit ihrer Kampfkunst als Selbstverteidigungsmethode. Deshalb werde ich sie auch nicht nach den Kriterien einer Selbstverteidigungsmethode bewerten.

Traditionelles Wing Chun zur Selbstverteidigung

Traditionelle Wing Chun Stilrichtungen verstehen sich in erster Linie als Kampfkünste und erheben selten den Anspruch, vorrangig „Selbstverteidigung“ zu unterrichten. Ziele wie das eigene Können und Verständnis des Wing Chun/Ving Tsun zu verbessern, stehen im Vordergrund.

Es ist unmöglich jedes einzelne Derivat und jeden Lehrer zu bewerten, dafür gibt es einfach zu viele. Was aber gut möglich ist, einen Überblick zu geben. Letztendlich unterscheiden sich diese Stilrichtungen nur wenig voneinander. Auch, wenn da einige Großmeister wohl entschieden widersprechen würden, aber da geht es ja auch und das ganz oft, um Differenzierung von den Mitbewerbern und so gut wie nie, um wirkliche Innovationen. Die Linien IP Man – Wong Shun Leung, klammern wir hier mal aus.

Über die Stilrichtung Wing Tsun/Wing Chun bin ich qualifiziert zu schreiben. Ich habe WT und ein Derivat unter einem ehemaligen Schlosslehrer in Langenzell, viele Jahre betrieben und auch unterrichtet.

Wing Tsun/Wing Chun zur Selbstverteidigung

Wing Tsun/Wing Chun wurde, vor ca. 300 Jahren, als Selbstverteidigungsmethode und Straßenkampfsystem entwickelt. Schnelle Handtechniken, wie Kettenfauststöße und tiefe Tritte sind, neben den klebenden Händen (Chi Sao), die Markenzeichen des Systems.

Zwei Stilrichtungen unter Leung Ting und Wong Shun Leung und Derivate dominieren heutzutage den Markt.

Traditionell gab es keinen Bodenkampf im Wing Chun/Wing Tsun. Moderne Versionen haben diese Lücke aber gefüllt und setzen sich mit dieser, für die Selbstverteidigung wichtigen Thematik auch auseinander.

Theoretische und praktische Inhalte, die moderne, westliche Selbstverteidigungsmethoden ausmachen, werden in den neueren Interpretationen des Wing Tsun, gelehrt. So spielt Selbstverteidigung unter den geltenden Notwehrgesetzen eine wichtige Rolle. Es reicht nicht aus, den Angreifer abzuwehren, wie es früher in China der Fall war. Die Themen, Notwehrrecht, Notwehrüberschreitung (Kettenfauststöße) und das gerichtliche Nachspiel, spielen im Training und der Programmgestaltung wichtige Rollen.

Stärken des Wing Tsun zur Selbstverteidigung

  • Deckt theoretisch, alle Aspekte und Anforderungen moderner Selbstverteidigung ab.
  • Schnell erlernbare SV Programme – Blitz Defence, Quick Defence, Safe Defence
  • Es wird in allen Kampfdistanzen werden geübt.
  • Der Umgang mit und gegen Waffen ist Thema.
  • Vielfach Einflüsse aus dem Escrima, was die Handhabung von Waffen angeht.

Keith Kernspecht, der, mit Leung Ting, gemeinhin als Vater des Wing Tsun in Europa gilt, hat sehr schnell erkannt, dass das traditionelle chinesische System, an die Anforderungen der westlichen Welt, angepasst werden muss.

Unter dem Einfluss, des britischen Kampfkünstlers und Türstehers Geoff Thompson und dessen Konzept des“ The Fence“ (Zaun) wurden die ersten Blitz Defence Programme entwickelt.

Die Blitz Defence Programme, hatten zum Ziel, Neulinge möglichst schnell, unter Einhaltung der Gesetze, wehrhaft zu machen. Das Programm baut auf „Preemtiv Striking“, den Erstschlag in der Selbstverteidigung.

Wer den ersten Schlag setzt und wirkungsvoll trifft, beendet den Kampf, bevor er begonnen hat. Es ist die sicherste Möglichkeit in der Selbstverteidigung und, wenn der gegnerische rechtswidrige Angriff des Aggressors unmittelbar bevorsteht, gesetzeskonform. (vom Notwehrrecht gedeckt.)

Auch der Bodenkampf wird im modernen Wing Tsun geübt. Einflüsse aus dem Brazilian Jiu-Jitsu sind hier nicht zu übersehen.

Die philippinische Kampfkunst Escrima, fand über Rene Latosa, Eingang in die Programme der EWTO, der europäischen Wing Tsun Organisation. So ist es zu erklären, dass fast alle Derivate und neue Wing Tsun Stilrichtungen, unterschiedlichster Schreibweisen (aus markenrechtlichen Gründen), Elemente aus dem Escrima, beinhalten.

Schwächen des Wing Tsun zur Selbstverteidigung

Aus meiner persönlichen Erfahrung sehe ich folgende Schwächen. Es hängt aber sehr viel vom Trainer und Verband ab. Eine allgemeingültige Aussage kann schwer getroffen werden, allerdings lassen sich aus meiner Sicht gewisse Tendenzen erkennen.

  • Viel Zeitaufwand für traditionelle Inhalte und Trainingsmethoden.
  • Spagat, zwischen Kampfkunst und Selbstverteidigung.
  • Kettenfauststöße, die Hauptwaffe im WT, schlecht zur Selbstverteidigung geeignet.
  • Die Beinarbeit ist kaum vorhanden.
  • Wenig, bis gar kein Sparring und Test der Fähigkeiten unter Druck.
  • „Geheimtechniken“ für höhere Grade.
  • Training meist lehrerabhängig – sehr verspielt und soft.
  • Es dauert viele Jahre, bis grundlegende Programme durchlaufen sind.

Vergleicht man das Wing Tsun (WT) mit anderen modernen Selbstverteidigungsmethoden, fällt auf, dass im WT den traditionellen Trainingsmethoden, sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es wird versucht, traditionelle Trainingsmethoden und moderne Selbstverteidigung unter einen Hut zu bringen.

Das führt aus meiner Sicht, zu einem weniger effizienten Training. Ich habe im größten Verband, bis zum 2. Techniker (heute höherer Grad – HG) gelernt.

Wer Einzelformen und Partnerformen, wie die Chisao Sektionen, mittlerweile genannt werden, trainiert, verschwendet aus Sicht eines für den Zweck der Selbstverteidigung optimierten Trainings, Zeit.

Realistisches Training, unter körperlichem und psychischen Druck, findet zu selten statt. Dieses „Pressure Testing“ ist für die realistische Einschätzung und Optimierung der eigenen Selbstverteidigungsfähigkeiten, unerlässlich.

Sparring, freie Übungskämpfe, finden meist gar nicht statt. Hier wird gerne damit argumentiert, diese Trainingsmethode sei für die Selbstverteidigung nicht relevant. 

Traditionelle Techniken, wie Kettenfauststöße sind mit moderner Selbstverteidigung, aus rechtlichen und technischen Gründen, nur schwer vereinbar.

Wing Chun/Wing Tsun zur Selbstverteidigung – Anbieter

Im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Organisationen und Verbänden, die WT unter unterschiedlichen Namen anbieten. Was die Schreibweisen angeht, sind der Fantasie hier kaum Grenzen gesetzt. Die Gründe dafür sind markenrechtlicher Natur.

Die Inhalte im Training und die Unterrichtsstrukturen sind in den verschiedenen Organisationen einander weitgehend ähnlich. Das zeigt sich an Strukturen, wie den 12 Schülergraden, den Techniker oder höheren Graden, dem Franchise System und anderen Dingen.

Selbstverständlich gibt es mitunter aber auch gravierende Unterschiede in den Trainingsinhalten und der Qualität des Unterrichts.

Wer Wing Tsun zur Selbstverteidigung trainieren möchte, sollte sich unbedingt verschiedene Lehrer und Organisationen ansehen und kritische Fragen stellen.

FAQ:

Ist Wing Tsun/Wing Chun schwer zu lernen und wie lange dauert es?

Wing Chun oder Wing Tsun erfordern keine besonderen körperlichen Fähigkeiten. Du musst weder besonders, kräftig, beweglich noch athletisch sein, um es zu erlernen. 

Wer Wing Chun / Wing Tsun wirklich erlernen möchte, sollte sich, wie bei jeder anderen Kampfkunst auch, einige Jahre Zeit für regelmäßiges und intensives Training nehmen. Die Schülergrade können in 2 bis 3 Jahren absolviert werden.

Für die höheren Graduierungen gibt es Wartezeiten, die in der Regel nicht verkürzt werden können. Der finanzielle Aspekt, vor allem bei den höheren Graden, ist nicht zu unterschätzen und variiert von Organisation zu Organisation.

Kann man Wing Tsun zu Hause online lernen?

Die Angebote Wing Tsun zu Hause, online zu erlernen, haben sich im Zuge der Covid Pandemie, deutlich verbessert. Ergänzend zum regulären Training, kann Online Unterricht, durchaus sinnvoll sein. Ausschließlich online, lässt sich WT, aber nicht erlernen. Der direkte Kontakt zu einem Lehrer ist zum Erlernen einer Kampfkunst unerlässlich. So ist zum Beispiel das Chi Sao (die klebenden Hände), das Herzstück des WT, ohne Körperkontakt nicht erlernbar. 

Wie gefährlich ist Wing Tsun?

Wing Tsun ist eine Kampfkunst, in der, der Nahkampf gesucht wird. Es kommen Fauststöße, Handkantenschläge, Ellbogen, Knie und tiefe Tritte zum Einsatz. Viele Techniken zielen auf Kehlkopf und den Halsbereich ab, werden diese Ziele getroffen, kann es zu tödlichen Verletzungen kommen.

In der Praxis ist es aber ungleich schwerer diese Ziele entscheidend zu treffen als in der Theorie. Das führt sehr oft zu unrealistischen Einschätzung der Gefährlichkeit dieser Kampfmethode.

Für die Selbstverteidigung ist oben beschriebene Vorgehensweise auch selten, optimal. In modernen Wing Tsun Programmen, wird dem, aber meist Rechnung getragen. 

Fazit: Wing Tsun/ Wing Chun zur Selbstverteidigung

Das moderne WT nimmt den Selbstverteidigungsaspekt im Training durchaus ernst und bietet diesbezüglich durchaus sinnvolle Trainingsinhalte. Ein pures Selbstverteidigungssystem, ist die Kampfkunst, aber nicht. Traditionelle Inhalte, spielen im Wing Chun, nach wie vor, eine sehr große Rolle.

Wer eine Kampfkunst betreiben möchte, die keine besonderen körperlichen Voraussetzungen erfordert, bis ins hohe Alter betrieben werden kann und den Selbstverteidigungsaspekt ernst nimmt, ist bei einem fähigen WT Lehrer, ganz gut aufgehoben.

Wichtig ist es dabei, verschiedene Anbieter zu vergleichen, kritische Fragen zu stellen und sich in Probetrainings, vor Ort, ein Bild zu machen.

Viel Spaß beim Training!

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