Karate zählt in seinen unterschiedlichen Stilformen zu den beliebtesten Kampfkünsten weltweit. Während viele Karatestile sich immer mehr in Richtung Kampfsport entwickeln, halten andere den Selbstverteidigungsaspekt hoch.
Karate ist zur Selbstverteidigung nur sehr bedingt geeignet. Es fehlen der Nah-, Waffen- und Bodenkampf und realistisches Sparring. Der Umgang mit echter Gewalt, abseits des Sports, Konfliktvermeidung, taktisches Verhalten und straßentaugliche Techniken werden im regulären Training vernachlässigt.
Obige Aussage, wird so einigen Experten und sogenannten Experten sauer aufstoßen. Das ist durchaus gewollt und ich fordere jeden Leser heraus, meine Argumente schlüssig zu widerlegen. Ich habe selbst Shotokan Karate bis zum 2 Kyu betrieben und mag die Kampfkunst Karate. Es ist eine in vielerlei Hinsicht wertvolle Kampfkunst. Hier geht es aber um eine realistische Betrachtung ihres Selbstverteidigungswertes.
Kriterien zur Selbstverteidigungstauglichkeit im Karatetraining
Je näher dein Karatetraining, an den tatsächlichen Herausforderungen in einer Selbstverteidigungssituation ist, umso effektiver trainierst du. Kihon- und Katatraining gehören nicht dazu. Kumite bedingt, sehr abhängig vom geltenden Regelwerk. So wie du trainierst, so wirst du kämpfen.
Praxistaugliche Grundtechniken im Karate?
Im Kihon, der Grundschule im Karate, werden stark stilisierte Bewegungsabläufe geübt. Die Karateka erlernen, ihre Grundtechniken, Stände, Blöcke, Schläge und Tritte. Diesem Grundschultraining wird viel Zeit im Training gewidmet. Die Techniken müssen eingeschliffen und perfektioniert werden.
Grundtechniken, sind in jedem Sport und in jeder Kunst, wie der Name schon sagt, die Grundlage, die Basis, für die Entwicklung zum Meister.
Das Problem mit der Grundschule im Karate ist dabei aus Sicht der Selbstverteidigung, die sehr stilisierte Ausführung von vielfach nicht anwendbaren Techniken. So sind Blocktechniken, wie Age Uke, Soto Uke, Gedan Barai, Shuto Uke in einem echten Kampf nicht anwendbar. Ausnahmen mögen zwar im Einzelfall die Regel bestärken, aber schau dir Wettkämpfe in diversen Karatestilen an.
Wie oft siehst du oben genannte Techniken?
Selbst die geraden Fauststöße wie Oi Tsuki und Gyaku Tsuki werden in Wettkämpfen nicht wie im Kihon ausgeführt. Während in der Grundschule die nicht schlagende Faust an die Hüfte zurückgezogen wird, belässt sie der Karateka beim Wettkampf vor dem Körper. Er hat so zusätzlichen Schutz und kann schneller den nächsten Schlag ausführen. Der Weg, den die Faust nehmen muss, ist kürzer.
Zwar sieht man bei Shotokan Bewerben ein Zurückziehen der Faust zur Hüfte nach einem Treffer. Der Sinn liegt aber eher darin, die Punkterichter zu beeindrucken als irgendeinen praktischen Wert. In einer Selbstverteidigungssituation, wäre es äußerst unklug, die Hand zu weit zurückzuziehen, denn die Auseinandersetzung kann ja weitergehen.
Das Regelwerk im Kumite und Selbstverteidigung
Die Regeln im Kumite konditionieren den Karateka auf bestimmte Verhaltensweisen. Er lernt innerhalb des bestehenden Regelwerks zu kämpfen. In einer Selbstverteidigungssituation gibt es aber keine Regeln, ringen, schlagen im Nahkampf, Würfe kommen nicht im Kumite vor. Er ist nicht darauf vorbereitet.
Eine sehr gute Faustregel, um die Eignung einer Kampfkunst oder Kampfsportart für die Selbstverteidigung zu bewerten ist, die verwendeten Techniken, Bewegung und Stilistik mit realen Kämpfen zu vergleichen.
Hast du diese Bewegungen schon in Straßenkämpfen gesehen? Haben sie funktioniert?
Es gibt zwar ein breites Repertoire an Bewegungen und Stilistik in den Kampfkünsten. Die entscheidende Frage aber ist für die Selbstverteidigung: Was davon bleibt über, wenn es ernst wird? Die Erfahrung zeigt, dass der Mensch in dieser absoluten Ausnahmesituation nur mehr auf einfache grobmotorische, reflexhafte Bewegungen zurückgreifen kann. Je ruhiger und kaltblütiger er bleibt, umso mehr werden ihm noch andere Möglichkeiten und Techniken zugänglich sein.
Das Problem mit Wettkämpfern und Wettkampfregeln ist, dass diese Karatekas, das gilt auch für jeden anderen Kampfsport, es verinnerlicht haben nach den vorgegebenen Regeln zu kämpfen. Bewegt sich ein Kämpfer innerhalb eines sportlichen Regelwerks, das ihm viele Möglichkeiten bietet, wird er besser auf eine Selbstverteidigungssituation vorbereitet sein, als andere.
So decken die Mixed Martial Art eine sehr große Bandbreite, des Kämpfens ab. Sie haben gelernt zu schlagen, treten, zu ringen und haben im Bodenkampf trainiert. Da sie all das im Vollkontakt trainieren, sind sie auf einen Kampf, in vielen Bereichen, sehr realistisch vorbereitet.
Wie groß ist der Schwerpunkt auf Selbstverteidigung im Karatetraining?
- Wer seine Kata perfektionieren will, muss Kata trainieren.
- Wer besser im Kumite werden will, muss Kumite trainieren.
- Wer seine Selbstverteidigungsfähigkeiten optimieren will, muss….?
Ja, er muss den Selbstverteidigungsaspekt in allen Facetten trainieren. Die Frage ist, wie viel Zeit, wird dafür im regulären Training verwandt? Bei einem gut gestalteten Training wird es direkt proportional zu den angestrebten Ergebnissen sein.
Damit stellt sich folgende Frage.
Weiß der Karatelehrer über Selbstverteidigung Bescheid?
Viele Kampfkunstschulen und Vereine bieten Selbstverteidigungskurse an. An dieser Art von Kursen herrscht immer Bedarf und auch der an Kampfkunst uninteressierte Durchschnittsbürger, verliert sich häufig einmal im Leben in einen Selbstverteidigungskurs.
Es ist nur naheliegend für Kampfkunst- und Kampfsportvereine Selbstverteidigungskurse anzubieten, weiß man doch übers Schlagen und Treten Bescheid.
So die Fehlannahme.
Mittlerweile, hat sich durch unsere Informationsgesellschaft einiges zum Besseren gewandelt, die Lehrer werden kompetenter und wissen mehr als in der Vergangenheit, um die Stärken und Schwächen ihrer Kampfkünste.
Trotzdem liegt hier vieles im Argen und das ist ein Problem.
Nicht jeder Kampfkünstler oder Kampfsportler verfügt automatisch über das Know-how, kompetent Selbstverteidigung unterrichten zu können.
Die nötige Qualifikation geht weit über den technischen Aspekt des Kämpfens hinaus, der meist ohnehin unzureichend abgedeckt wird.
Hier geht es nicht um viele Techniken, sondern das Beschränken auf wesentliche Techniken, Konzepte und den psychologischen und rechtlichen Aspekt von Selbstverteidigung. Die dazugehörende Trainingsmethodik spielt auch eine ganz wesentliche Rolle. Nicht umsonst nutzen Profis Szenariotrainings, Drills und Rollenspiele, um sich dem Thema Selbstverteidigung möglichst realistisch anzunähern.
Für ein gutes Selbstverteidigungstraining ist das unerlässlich.
Stilisiertes Kämpfen in Form eines Duellkampfes bereitet nicht ausreichend auf eine Notwehrsituation vor.
Viele, darunter auch hochkarätige und hoch graduierte Kampfsportler, sind bei Schlägereien gegen untrainierte Schläger untergegangen. Der Grund lag an der ihnen völlig unbekannten Situation, an hinterhältigen plötzlichen Angriffen und an Angriffen, auf die sie ihr sportliches Training nicht vorbereitet hat.
Deshalb müssen diese Aspekte der menschlichen Auseinandersetzungen, unbedingt mit ins Selbstverteidigungstraining mit ein fließen.
Diese Aspekte der Selbstverteidigung fehlen im Karate
- Der Nahkampf
- Ringen
- Waffen
- Bodenkampf
- Szenariotrainings
- psychologische Vorbereitung
Zunächst einmal – Karate ist nicht gleich Karate – es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Stilrichtungen und noch mehr Lehrer, die ihren Unterricht mit persönlicher Note versehen und im Rahmen der Vorgaben individuell gestalten.
Zum Selbstverteidigungswert des Karate, vor allem, was die bekannten Stilrichtungen angeht, lassen sich aber sehr wohl allgemeine Aussagen treffen, wenn die auch nicht in jedem Einzelfall zutreffen müssen.
Shotokan Karate und Selbstverteidigung?
Shotokan Karate, ist ein moderner, sportlicher Karatestil. Das Kumite ist hochgradig spezialisiert, klammert aber wesentliche Elemente eines realistischen regellosen Kampfes bewusst aus. Das bedeutet, es bereitet kämpferisch nicht auf eine Selbstverteidigungssituation vor.
- Im Kumite wird ausschließlich in der langen Distanz im Leichtkontakt gekämpft.
- Nach einem erzielten Treffer wird der Kampf unterbrochen, um wieder neu zu starten. Wie wir wissen, ist das im Ernstfall nicht der Fall.
- Es gibt keine Wirkungstreffer. Es ist Sache der Punkterichter, die Wirkung der erzielten Treffer zu bewerten. Keiner weiß wirklich genau, was der Treffer mit vollem Kontakt bewirkt hätte. Wäre der Kampf vorbei gewesen oder wäre es erst so richtig losgegangen?
- Kopftreffer sind kurz vor dem Ziel abzustoppen bzw. sollen den Gegner nur leicht berühren. Das führt zu einem falschen Distanzverhalten, geht es darum, Wirkungstreffer zu erzielen.
- Im sportlichen Wettkampf wird, ähnlich wie beim Fechten nach Punkten gekämpft. Das lässt beim Shotokan wenig Rückschlüsse, über den tatsächlichen Ausgang eines Kampfes zu.
- Die Nahdistanz, in der Haken, Ellenbogen oder Knie eingesetzt werden können, gibt es im Wettkampf nicht.
- Es gibt keinen Clinch, aus dem gerungen oder geworfen werden kann. Die Kämpfer werden sofort vom Schiedsrichter getrennt.
- Der Bodenkampf spielt keine Rolle.
- Kein Waffenkampf.
Hast du jemals eine Schlägerei gesehen, die auch nur annähernd so ausgesehen hat?
Kyokushin Karate und Selbstverteidigung?
Im Kyokushin Karate fehlen folgende selbstverteidigungsrelevanten Aspekte:
- Keine Faustschläge zum Kopf im Kumite erlaubt.
- Würfe sind verboten.
- Kein Clinch: Sobald sich die Kämpfer zu nahe kommen und klammern wird der Kampf beendet, es sei denn es erfolgt unmittelbar ein Wurf.
- Der Bodenkampf ist ausgeklammert.
- Kein Waffenkampf.
- Taktische und psychologische Vorbereitung auf Notwehrsituationen. (abhängig vom Lehrer)
Die Karateka dieser Stilrichtung verfügen über viele sehr kampfrelevante Eigenschaften. Das Kyokushin Karate ist die Mutter aller Vollkontaktkaratestile. Es ist knallhart und das erklärte Ziel im Kumite ist es seinen Gegner K.O zu schlagen, sollte das nicht gelingen gibt es eine Punktewertung.
Sie sind gewohnt einzustecken und auszuteilen und körperlich topfit. Da es keine Gewichtsklassen im Kyokushin gab und immer noch gibt, (?) sind die Karatekas im Durchschnitt schwerer und muskulöser als in anderen Stilrichtungen. Da Wirkungstreffer angestrebt werden, wird dementsprechend trainiert.
Das Kyokushin Karate ist aber durch das Regelwerk im Kumite sehr eingeschränkt. Im Unterschied zum Muay Thai, sind im Kyokushin Karate Faustschläge zum Kopf nicht erlaubt. Diese eine Regel ist gerade für die Selbstverteidigung besonders fatal. Wer nicht gewohnt ist im Training zum Kopf zu schlagen und angegriffen zu werden, wird diese im Ernstfall mit geringerer Wahrscheinlichkeit tun.
Im Video siehst du ab ca. 2:50 den Kampf zwischen einem Thaiboxer und Karateka.
Das zeigt sich immer wieder in Vergleichskämpfen mit Thai Boxern und Kickboxern. Die ja mit einem ähnlichen Regelwerk kämpfen, allerdings gewohnt sind zum Kopf zu schlagen. Sobald diese Kampfsportler das dann in der Hitze des Gefechts tun, kann man die hammerharten Karatekas vielfach völlig aus dem Konzept gebracht sehen.
Es ist in ihnen tief verankert, ja antrainiert worden, dass Schläge zum Kopf nicht dazugehören. Sie brechen dann oft instinktiv den Kampf ab, wegen dieses Regelverstoßes. Das sind Gewohnheiten, die in einer Notlage, einem Straßenkampf fatal enden können.
Hier zeigt sich einmal mehr, wie wichtig es ist genau das zu trainieren, was man dann tun möchte.
Ein paar Beispiele dazu:
Wer im Selbstverteidigungstraining, Beispiel Waffenabwehr, noch erfolgreicher Aktion, die Waffen seinem Trainingspartner zurückgibt, wird das irgendwann automatisieren. Solch ein Training hat schon in verbürgten Einzelfällen dafür gesorgt, dass der Angegriffene in einer echten Notsituation, das Gleiche getan hat. Er hat, wie er es hunderte male oder mehr trainiert und automatisiert hat, die Waffe wieder zurückgegeben.
Wie fatal eine solche Handlung im Ernstfall enden kann, kann sich jeder ausmalen.
Die Moral von der Geschichte:
Trainiere das, was du im Notfall umsetzen möchtest. So realistisch wie möglich.
Andere Karatestile und ihre Eignung zur Selbstverteidigung
Bei meinen Recherchen bin ich auf unzählige Karatestile gestoßen. Einige halten den Kampfkunst- und Selbstverteidigungsaspekt ihrer Kunst höher als andere, die sich mehr in die sportliche Entwicklung orientieren.
Bei keinem dieser Stile habe ich aber das entdecken können, was modernes Selbstverteidigungstraining ausmacht. Teilaspekte davon ja durchaus. Das Gesamtpaket konnte mich jedoch nicht überzeugen. Es gibt definitiv schnellere Wege seine Überlebenschancen in einer Notwehrsituation zu erhöhen als traditionelles Karatetraining.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es Karatelehrer, die ein hervorragendes Selbstverteidigungstraining anbieten. Sie sind aber nicht repräsentativ für diese Kampfkunst.
Hier sind Bestrebungen zu sehen, das Karate an die Erfordernisse eines regellosen Kampfes anzupassen.
Fairerweise muss man dazu sagen, dass der Sinn des Karate, von seinen Anfängen in Okinawa vielleicht abgesehen, nie in erster Linie Selbstverteidigung war. Karate entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan zu einem Breitensport und wurde auch so konzipiert. Es diente der militärischen Ertüchtigung von Soldaten, dem körperlichen Training, der Entwicklung geistiger Ziele auf dem Weg des Do. Es ist eine Wegkunst. Eine Kunst, die man sein Leben lang gewinnbringend betreiben kann.
In ihrer Entwicklung zum Breitsport wurden die meisten Karatestile vereinfacht, standardisiert und auch entschärft. Man wollte nicht das gesamte Wissen öffentlich und jedem zugänglich machen.
Moderne Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich des realistischen, möglichst schnell zu erlernenden Selbstverteidigungstrainings, findest du eher bei den Combatives, die sich genau darauf und nichts anderes spezialisiert haben.
Informationen zu den Combatives, die sich ausschließlich auf Selbstschutz konzentriert haben, findest du in meinem Beitrag – Combatives.
Fazit Karate zur Selbstverteidigung
Die in diesem Beitrag gebrauchten Argumente, lassen sich auf die absolute Mehrheit der Kampfkünste und Kampfsportarten anwenden, insofern tut es mir schon fast leid, das hier am Beispiel der Kampfkunst Karate so plakativ beschrieben zu haben.
Karate ist, was es ist. Eine faszinierende Kampfkunst, die für Jung und Alt sehr viel zu bieten hat. Als pure Selbstverteidigung ist es nicht konzipiert, deshalb wäre es nicht fair es unter diesem Gesichtspunkt alleine zu betrachten.
Da aber die Frage nach der Selbstverteidigungstauglichkeit des Karate immer wieder auftaucht, habe ich mich bemüht es unter diesem Aspekt zu beleuchten.
Das Karatetraining fördert auch durchaus Eigenschaften, die im Notfall sehr hilfreich sein können. Schnelligkeit, Schlag und Trittkraft, Koordination, Distanzgefühl und Timing, wenn ihr das bewusst trainiert. Wer sich als Karateka, den fehlenden Puzzlesteinen im Themengebiet Selbstschutz widmet, wird sehr schnell lernen. Er verfügt ja über einige gute Grundlagen.
Meine Empfehlung an Karatekas, die sich diesbezüglich weiterentwickeln wollen. Besucht einschlägige Seminare, macht euch bewusst, woran ihr noch arbeiten solltet und bleibt bei dem Sport, der euch Freude macht.
Mit einem leicht schlechten Gewissen – Viel Spaß beim Training!
Martin