Das Spear System – behavioristische Selbstverteidigung


Das Spear System
Das Spear System

Der Spagat zwischen Kampfsport und Kampfkunst, zu realistischem Selbstverteidigungstraining ist ein großer. Es handelt sich einfach um zwei verschiedene Paar Schuhe. Dinge, die nur oberflächlich betrachtet dasselbe Thema behandeln. Tony Blauer hat sich mit seinem Spear Selbstschutz System, der Problematik systematisch angenähert.

Tony Blauers Spear System ist eine auf natürlichen Reaktionen basierende Selbstverteidigungsmethode. Es baut auf unwillkürliche Schutzreflexe und wird weltweit von Behörden trainiert. Dabei dient das Spear System als Brücke zwischen instinktiven Reaktionen und erlernten kämpferischen Fähigkeiten.

Realistische Selbstverteidigung zu unterrichten, ist ein denkbar schweres Unterfangen. Dabei stellt das größte Problem dar, Erfahrungen aus der Praxis zu vermitteln. Das kann allerdings auch nur derjenige, der tatsächlich welche hat.

Den technischen Teil von Kampfmethoden zu vermitteln, ist dabei das geringste Problem.

Die Entstehungsgeschichte des Spear Systems

S.P.E.A.R.  ist die Abkürzung für Spontaneous Reaction Enabling Accelerated Response. Das Spear System entstand zwischen 1986 und 1987 aus einem Drill. Inhalt des Drills war es, den sogenannten Sucker Punch, einen hinterhältigen, überfallsartigen Schlag aus nächster Nähe abzuwehren.

Der Sucker Punch findet in der Realität täglich seine Opfer. Menschen werden kalt, ohne überhaupt nur eine Abwehrreaktion zu zeigen, ausgeknockt. Routinierte Schläger verstehen es sich sicher in aus einem Gespräch heraus in die Distanz zu „arbeiten“ in der sie ihr Opfer mit einem ansatzlosen überraschenden Schlag niederschlagen können.

Es ging also darum, ein realitätsnahes Szenario zu schaffen, das sich dem Problem von überraschenden Angriffen annahm. Das ist der entscheidende Punkt. Im Unterschied zu einem offenen Kampf oder Sparring, wo alle Beteiligten darüber Bescheid wissen, dass sie sich in einem Kampf befinden und welche Regeln gelten, herrscht in diesem Szenario ein Ungleichgewicht. Die Zeit den Gegner abzuschätzen, sich eine Strategie zurechtzulegen ist nicht vorhanden.

Das Problem – mit antrainierten Reflexen

Der Angriff kommt aus dem Nichts, keine Zeit zu denken, sondern nur instinktiv zu handeln.

Tony Blauer der Erfinder des Systems, arbeitete in seinem Sucker Punch Drill, mit einem hervorragenden Boxer, der mit 16 Unzen Handschuhen ausgerüstet, aus einem Gespräch heraus mit Schlägen angreifen sollte. Die ersten Ergebnisse waren niederschmetternd, im wahrsten Sinn der Worte. Blauer wurde seinen eigenen Aussagen nach verprügelt. Diese Erfahrungen motivierten ihn, dem Problem auf den Grund zu gehen und es zu lösen.

Was musste hier anders gemacht werden?

Der Flinch – Die Lösung des Sucker Punch Phänomens?

Flinch bedeutet übersetzt instinktives Zusammenzucken, dabei werden die Hände zum Schutz instinktiv erhoben und die Bedrohung weggedrückt. Die Reaktion findet unbewusst statt und erfolgt deshalb besonders schnell.

Abwehrverletzungen von Verbrechensopfern, oder Menschen, die in Unfälle verwickelt werden, zeigen immer wieder die gleichen Bilder. Hand und Armverletzungen, die Beweis für die genetisch tief verankerten Schutzreflexe des Menschen sind.

Gegen den Sucker Punch und überfallartige Angriffe aller Art, musste eine Art Sicherung oder Air Bag wie es Blauer metaphorisch nennt gefunden werden, der den ersten Überraschungsangriff neutralisiert.

Dabei ist es wichtig, die Hauptenergie aus dem Angriff zu nehmen, um als Verteidiger handlungsfähig zu bleiben. Es geht also darum, nicht entscheidend getroffen zu werden.  Darauf aufbauend können dann die kämpferischen Fähigkeiten, wie wir sie in den Kampfsportarten und Kampfkünsten trainieren, angewandt werden.

Was nicht funktioniert ist, die Art des Angriffs zu erkennen und eine entsprechende Abwehrtechnik auszuwählen und dann auch noch anzuwenden. Dazu ist schlicht und einfach nicht genug Zeit.

Voraussetzung für den „Startle Flich“, wie Tony Blauer ihn nennt, ist allerdings die Situational Awareness, die entsprechende Aufmerksamkeit im Vorfeld!

Ist diese nicht gegeben, funktioniert der Flinch als im Nervensystem verankerter Notfallmechanismus nicht, er wird schlicht und einfach nicht ausgelöst.

Weaponizing the Flinch im Spear System

Blauers Konzept nutzt also eine unwillkürliche Schutzreaktion, den Flinch und baut auf der Basis, weitere Aktionen, Strategien und Techniken auf.

Der Flinch wird selbst kultiviert und als in weiterer Folge offensives Abwehrsystem eingesetzt. Ziel ist es möglichst schnell, den Übergang von der Defensive nach einem überraschenden Angriff zur Offensive zu schaffen. Der Flinch wird im Training gegen unterschiedlichste Angriffe eingesetzt. Seien es Schläge, Tritte oder ringerische Angriffe.

Outside 90 –  Die stabile Kontrollposition

Der Angreifer wird auf Distanz gehalten und gleichzeitig kontrolliert. Der Winkel zwischen Ober- und Unterarm ist dabei größer als 90 Grad. Das macht es dem Angreifer fast unmöglich, die Distanz zu schließen. Zusätzlich zum vorteilhaften Winkel zwischen Ober- und Unterarm sorgen, die gespreizten Finger für eine höhere Aktivierung der Muskulatur, was die Position noch stabiler macht.

Aus dieser Position können Folgetechniken mit Knien und Ellenbogen abgefeuert werden.

Die Führhand im Spear System selbst stellt eine Waffe dar. Wobei nicht geschlagen wird, sondern aus oben beschriebener stabilen Position – „gespeart“ wird. Der Unterarm kann mit dem vollen Körpergewicht dahinter als eine Art Rammbock eingesetzt werden. Trifft der Unterarm auf den Hals des Angreifers, kann das für sich schon den Kampf beenden.

Es sollte aber in jedem Fall ausreichen, wenn die Kräfteverhältnisse nicht allzu ungleich sind, den Aggressor nach hinten zu bewegen.

In diesem Fall öffnet sich für den Verteidiger eventuell ein Fluchtfenster oder er kann nachsetzen und in die Offensive gehen.

Das Trojanische Pferd – Den Aggressor täuschen

Dieses Konzept des „trojanischen Pferds“ (trojan horse metaphor of a non violant posture) stellt eine Falle für den Aggressor auf. Die Idee ist, auf eine bedrohliche Annäherung eines potenziellen Gewalttäters erst einmal, körperlich gar nicht zu reagieren. Der Aggressor soll sich ihn Sicherheit wiegen und seinen Eigenschutz vernachlässigen.

Das wäre ja nicht gegeben, wenn der Bedrohte sichtbar reagiert und in eine andere Position wechselt, weil er ein ungutes Bauchgefühl bekommt und das so verrät.

Dann wäre für beide klar, der jeweils andere weiß „Bescheid“!

Der Bedrohte ändert seine Körperhaltung aber nicht und lässt sich nicht anmerken, dass ihm die Bedeutung der Situation klar ist. Das verhilft ihm wiederum den Aggressor selbst überraschend anzugreifen, da dieser damit rechnet ein leichtes Spiel zu haben.

Ganz ehrlich, für mich wäre das nichts. Ich hätte nicht die Nerven dafür, und das Risiko völlig unvorbereitet angegriffen zu werden, wäre mir zu groß.

Angstmanagement im Spear System

Angst ist ein von der Natur eingerichtetes, sehr sinnvolles Gefühl, um uns vor Bedrohungen zu warnen. Es ist in gefährlichen Situationen völlig normal, Angst zu haben. Der Unterschied zwischen einem Helden und einem Feigling besteht darin, wie er mit seiner Angst umgeht.

Angst kann uns auch völlig lähmen und handlungsunfähig machen. Dieser im Fight – Flight – Freeze Phänomen beschriebene Zustand, hat in zwischenmenschlichen Konflikten allerdings nur Nachteile. Während das Gelähmt sein vor Angst und in völliger Angststarre Verharren, in grauer Vorzeit, gegenüber Raubtieren, so manches Menschenleben gerettet hat, ist es verheerend in Kampf Mann gegen Mann.

Es ist also äußerst erstrebenswert Möglichkeiten zu haben, die eigene Angst bzw. den nervlichen Erregungsgrad zu regulieren.

Im Spear System werden dazu wertvolle Handlungsanweisungen und Empfehlungen gegeben. Eine davon ist dem Aggressor nicht nach seinem Aussehen, Fähigkeiten zuzuschreiben, von der man nicht weiß, ob er sie hat. So muss nicht jeder tätowierte Muskelmann tatsächlich kämpfen können.

Anstatt dem anderen also vermutete Attribute zuzuschreiben und dann einen inneren Film ablaufen zu lassen, was der dann alles mit dir machen kann, ist folgender Ansatz besser:

Stell dir vor, was du aufgrund deiner Fähigkeiten und Möglichkeiten mit dem Gegner machen kannst. So kommst du nicht in die Situation den Kampf bevor er bereits begonnen hat im Kopf zu verlieren.

Kommunikation im Kontext der Selbstverteidigung

Die Bedeutung der Kommunikation zur Lagebeurteilung spielt in jedem Selbstverteidigungssystem eine wichtige Rolle.

  • 60 % Körpersprache
  • 30 % Ton
  • 10 % Worte

Wie du siehst, sind Mimik und Gestik am wichtigsten, gefolgt von der Stimmlage. Erst danach kommen die gesprochenen Worte. Körpersprache lesen zu lernen und bewusst einzusetzen, kannst du gut im Alltag üben. Über YouTube und andere Videoplattformen sind dir viele Analysen und Aufnahmen von Gewaltsituationen zugänglich. Du kannst also, ohne Eigengefährdung lernen, die Zeichen richtig zu deuten.

Im Spear System wurden solche Analysen akribisch, über Jahrzehnte betrieben und die Erkenntnisse in die Unterrichtsstruktur integriert.

Fazit: Spear System – behavioristische Selbstverteidigung

Das Spear System von Tony Blauer ist ein evidenzbasiertes Selbstverteidigungsprogramm, das sich ganz wesentlich an menschlichen Verhaltensmustern orientiert. Was ist genetisch bedingt, was erlernt und wann kann man sich was, zunutze machen?

Diese Herangehensweise löst viele praktische Probleme, denen sich Menschen in aller Welt immer wieder ausgesetzt sehen. Die Methode ist geeignet eine Brücke zwischen Kampfsport und realistischer Selbstverteidigung zu schlagen, weil sie wissenschaftlich erklärt, was wann funktioniert. Das Training ist dementsprechend aufgebaut und sicherlich eine interessante Option nicht nur für Kampfsportanfänger.

Viel Spaß beim Training!

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